Auch wenn mir das "gut" in der Anrede ein wenig widerstrebt.
Gut, gut, der Schreck sitzt nicht mehr so tief, wie 2001, fast schon scheint es, dass eine gewisse Gewöhnung eingetreten ist. Sozusagen eine Abstumpfung, aber so verständlich es vielleicht ist, ist es richtig?
Aber vielleicht sollte ich meine Gedanken einmal sammeln.
Es scheint mir komisch, dass ich um diese Zeit noch die erste bin, die einen Thread zu dem Thema aufmacht, dass doch den ganzen Tag alle Medien (auch das Internet) beherrscht. Wie vermutlich viele habe ich den halben Tag vor News-Foren und N-TV gehangen und immer und immer wieder die gleichen Bilder gesehen.
Nicht so eindrucksvoll, aber deshalb irgendwie auch berührender, finde ich. Der Einsturz des WTC war so gewaltig, dass er schon wieder irreal schien. Diesmal ist das ganze deutlich "näher" an unserem Leben. Im WTC waren wohl erst wenige, mit der U-Bahn gefahren sind wir wohl fast alle schonmal irgendwo. Auch die Zahl der Opfer ist geringer, doch ist es deshalb weniger schlimm?
Es gibt so einige Fragen, die mich heute über den Tag nacheinander, abwechselnd und ergänzend beschäftigt haben, und auf die ich allein keine Antwort finden kann. Vielleicht geht es anderen ähnlich und wir können uns austauschen, in Form von Ideen oder Hilflosigkeit.
Die erste Frage ist das "Warum?"
Nein, nicht das "Warum der Anschlag?" sondern das "Warum ist jemand bereit, willkürlich, ohne Hass gegen eine einzelne, bestimmte Person zu töten, ihm wildfremde Meschen einfach auszulöschen?" Ich kann mir vorstellen, dass man einen bestimmten Menschen derart hassen kann, dass man ihn töten will, aber einfach jemand wildfremdes? Und dafür noch sein eigenes Leben opfern?
Was treibt diese Täter, ist es wirklich nur die Armut und Aussichtslosigkeit, wie so viele behaupten? Und wenn es so wäre, warum leben dann viele vorher Jahre in Europa oder Amerika in 'Reichtum' verglichen mit ihrer Heimat? Oder blindes Einpeitschen von Parolen? Aber warum sind es dann so viele Studenten, die doch eigentlich eher zu den intelligenteren Menschen gehören sollten? *seufz*

Dann kommt das "Wozu?"
Und zwar in dem Sinne von "Wozu soll das gut sein?" Ich kann mir vorstellen, dass es Dinge gibt, für die cih bereit bin, mein Leben zu opfern. Aber seit es den Terrorismus gibt, hat er eigentlich noch nie wirklich etwas bewegt. Das Baskenland gehört noch zu Spanien, Nordirland noch zum Vereinigten Königreich und Amerika ist immer noch die Weltmacht Nr.1. Wozu nun also die Anschläge, die doch offensichtlich nichts erreichen außer einen noch engeren Schulterschluß derer, die entzweit und verängstigt werden sollen?
Geht es El-Kaida vielleicht um die Einschänkung von Persönlichkeitsrechten in Europa und Amerika? Irgendwie scheint mir das das einzige zu sein, was sie erreichen, aber darin kann ich keinen Fortschritt für sie selbst erkennen.
Und dann noch das "Wo?"
Hatte es (neben dem G8 Gipfel) irgendeine Bedeutung, dass ausgerechnet London das Ziel war? Die Beteiligung am Irak-Krieg vielleicht? Läßt sich so ein Anschlag wirklich vorhersagen, wie es Terror-Experten angeblich getan haben? Und wenn man es könnte, wie würde man mit dem Wissen umgehen, dass in der eigenen Stadt so etwas früher oder später passieren wird? Leben wir nicht alle mit der Angst und der Hoffnung, dass es jemand anderen Treffen wird, wenn es in der eigenen Stadt mal knallt? Oder dass es erst knallt, wenn wir nicht mehr da sind?
Und damit bin ich dann wieder am Anfang von meinem Post und der Frage danach, ob der Anschlag weniger schlimm ist als der auf das WTC, weil er weniger Tote gefordert hat. Warum sitzen meine Trauer und der Schock diesmal nicht so tief? Weil es weniger Opfer sind? Läßt sich das überhaupt begreifen, was 30, 50 oder 5000 Tote sind, wenn man den Leichenberg nicht gesehen hat? Und ist ein Opfer weniger schlimm als 1000??
Ist nicht vielleicht gerade das das Ziel der Terroristen, die Achtung vor dem Leben, vor jedem einzelnen, zu nehmen, uns Abzustumpfen und dahin zu bringen, dass uns ein einzelnes Leben und damit der höchste aller humanistischen Werte, die Unantastbarkeit des Lebens, nichts mehr bedeutet?
Dass wir weggehen, wenn jemand angegriffen wird, wie es heute schon viel zu oft der Fall ist? Dass es uns egal ist, solange das Opfer ein anderer ist?
Vielleicht sind Terroristen nicht so chancenlos wie ich denke (dachte?), denn wenn es ihnen gelingt, uns die Achtung vor dem Leben zu nehmen, dann heben sie das Fundament unserer Zivilisation aus den Angeln, denn die beruht just darauf, dass eben auch der Schwächere das Recht auf Leben hat. Was wäre, wenn El-Kaida nichts anderes im Sinn hat, als uns zu egoistischen Überlebenskünstlern zu erziehen, die sich nicht mehr um den vermeintlich Schwächeren neben sich kümmern, solange sie selbst nicht angegriffen oder bedroht werden? Denn wenn wir da sind, dann ist diese Gesellschaft meiner Ansicht nach nicht mehr als zivilisiert zu betrachten und dann kann es auch keine Demokratie mehr geben, in dem Sinn, dass die Menschenrechte aller geschützt werden.
Gruss
Anni
P.S.: Wie ich im Nachhinein feststelle ist der Post wohl in erster Linie entstanden, weil ich mir ein paar Gedanken von der Seele schreiben wollte. Vielleicht aber geht es anderen ähnlich und wir können unsere Gefühle teilen.